Amerikareise 2001 - Kapitel 46: Wo Drachen und Fische fliegen 

Langsam geht der Überblick verloren. Ich schätze, das ist das fünfte mal, dass ich auf dieser Reise in die USA einreise. Und so lange hat es bisher noch nie gedauert. Die Schlange ist sicher einen Kilometer lang, Bis ich dran bin, war ich einige Male hinten im Camper, um mir was zu Trinken, Mittagessen, kurze Hosen usw. zu holen. Mütter machen auf der Wiese nebenan einen Spaziergang mit ihren Kiddies, zwischen den Autos wandern fliegende Händler mit Eis, Getränken und Knabberzeug auf und ab. Auf die Idee, während der Stunde Wartezeit mal den Motor abzustellen, kommen allerdings nur verrückte Touristen. Wofür hat man denn eine Automatik?

Auch nach Seattle rein fließt der Verkehr nicht gerade reibungslos. Das liegt wohl daran, dass der Freeway hier nur vier Spuren je Richtung hat, für eine große Stadt sind sechs einfach das Minimum. Davon wird meistens eine Spur während der Stoßzeiten für car pools (mindestens 2 Leute in einem Auto, Busse etc.) freigehalten. Aber auch das hilft nix, Amis sind fast immer alleine im Auto, die Spur bleibt leer. Well. Beinahe ohne Ehrenrunde finde ich meinen Weg zum Strobelschen Häuschen. Ich habe nämlich mal wieder jemanden gefunden, dem ich ein paar Tage auf die Nerven fallen kann.

Von rechts: Jennifer, Lukas (eindreiviertel Jahre alt) und Frank Strobel. Frank kenne ich aus der Zeit, als er in seiner Heimatstadt Rottweil Baseball gespielt hat und auch im Landesverband aktiv war. Inzwischen arbeitet er für eine texanische Firma als "Botschafter" für Microsoft und lebt schon 8 Jahre in den Staaten.

Nach köstlichem Abendessen besorgen wir uns den Nachtisch in einem Café in downtown Seattle. Ich bekomme etwas, das sich 'Sarah Bernard' nennt, aussieht wie ein Granatsplitter und innen aus Mousse au Chocolat auf einem Marzipanboden besteht. Köstlich und rich, wie der Amerikaner sagen würde.


Erster Programmpunkt des nächsten Tages ist ein Besuch auf dem Pike Place Market. Nachdem wir uns bei einem französischen Bäcker mit Mandel-Marzipancroissant und ähnlichen Köstlichkeiten versorgt haben, wandern wir durch die Reihen. Die Beobachtung mit den chinesischen Händlern aus Vancouver bestätigt sich hier, die Stände gleichen Kunstwerken.

Dass Seattle am Meer liegt, merkt man: Liebhaber von Meeresfrüchten kommen voll auf ihre Kosten. Muscheln, Krabben usw., was das Herz begehrt. Und dann natürlich fliegende Fische.

Genauer: fliegende tote Fische (oder für Manfred: pescado). Die Kollegen vom Fischstand haben zwecks Steigerung der Attraktivität nämlich angefangen, Fische aus der Auslage zum Wiegen und Einpacken zu werfen. Und zwar über die (meist hastig eingezogenen) Köpfe unbeteiligter Kunden hinweg. Hier fliegt gerade ein Lachs seiner Verarbeitung entgegen. Wer mehr sehen möchte, sollte sich mal auf deren Webseite umsehen. 

Seit ich Toronto verlassen habe, bin ich in Seattle erstmals wieder an einem Standort der Baseball Major League. Natürlich stand auf dem Plan auch der Besuch mindestens eines Spiels der Mariners. Dummerweise gibt es da ein kleines Problem: die Seeleute sind gerade dabei, einen neuen Rekord für gewonnene Spiele in einer Saison aufzustellen. Anders formuliert, das Stadion ist für alle Spiele ausverkauft.

Also bleibt uns nichts anderes übrig, als das leere Stadion namens Safeco Field im Rahmen einer Tour zu besichtigen. So stehe ich also mal wieder in einem überdachbaren Stadion (nach Milwaukee und Toronto), mal wieder seit letztem Jahr in Betrieb (wie Milwaukee und Detroit) und mal wieder neben der Baustelle für ein Footballstadion (Detroit). Diesmal benannt nach einer Versicherungsgesellschaft, die in 20 Jahren insgesamt 40 Mio $ auf den Tisch legt. Bei Baukosten von 159 Mio $ doch schon ein nennenswerter Brocken. Während ich über die 49.000 leere Sitze schaue, fällt es mir schwer, mir das ganze ausverkauft vorzustellen. Nachdem wir die noblen Suites (jede hat eine eigene Küche und historische Original-Uniformen an der Wand) betrachtet haben, geben wir gemeinsam eine Pressekonferenz.

 

Vielleicht sollte ich mich für das nächste Mal vorher rasieren und mit einer Mariners-Uniform ausstatten - oder wenigstens einen Schlips besorgen. Den braucht man sicher auch, wenn man sich während des Spiels im Diamond Club aufhalten möchte. Für knapp 600 DM je Spieltag ist da dann allerdings auch ein Buffet inklusive. Billiger kommen die Medienvertreter weg, allerdings gibt's auch nur Fast Food in der Press Box. Durch die "Kabine" der Gastmannschaft dürfen wir dann auch aufs Spielfeld - macht schon was her!

Da es, Gerüchten zu folge, in Seattle gelegentlich regnen soll, nutze ich das herrliche Wetter doch gleich noch aus, um mich in der Stadt ein Wenig umzusehen. Das bringt mich zum Gelände eines ehemaligen Gaswerks, das mangels anderer Ideen in einen Park verwandelt wurde. Oben auf dem Hügel gibt es eine recht komplizierte Sonnenuhr (mit eingebauten Jahreszeiten und Sommerzeit) zu bewundern. Außerdem eignet er sich hervorragend, um Drachen steigen zu lassen.

Das große Fluggerät ist übrigens nicht an der Leine und kommt gerade im Landeanflug vorbei. Auf der anderen Seite liegt nämlich der Lake Union mit der Anlegestelle für Wasserflugzeuge. Während ich so dasitze und zusehe, wie ein Hund mit seinem Frauchen Tennis spielt (sie schlägt den Ball weg, er bringt ihn zurück), fällt mir ein, dass sich so ein Hügel doch sicher auch für ein Panoramafoto eignen würde. Wie üblich gibt's den großen Bruder durch Klick auf den kleinen. Links unter der Brücke durch geht es zum Lake Washington, rechts zur Shilshole Bay des Puget Sound.

Nachdem ich eine Weile mit dem Fahrrad unterwegs war, (Fahrradwege oder Schilder sind in Seattle noch nicht erfunden worden)-: komme ich gerade rechtzeitig zum Sonnenuntergang zurück. Die Sonne wandert durch die Brückenkonstruktion des Highway 99.

Als ich in die andere Richtung schaue, kommt es mir fast so vor, als ob sich die Hochhäuser Richtung Sonne gedreht hätten, um noch schnell die letzten Strahlen zu genießen.